So viele Wunder!
Tatjana Kuschtewskaja war entlang der Lena unterwegs
Rezension von Irmtraud Gutschke
So schöne Blumen wie in Sibirien habt ihr noch nie gesehen", schwärmte uns der Russischlehrer in der dritten Klasse vor. "Riesig groß und in solchen leuchtenden Farben, sowas kennt man hier nicht. Die meiste Zeit ist es ja kalt dort, aber wenn die Natur erwacht..." So viel wusste ich, dass er nach dem Krieg dort gewesen war. Als Gefangener, das begriff ich später und staune noch heute, dass er von Blumen sprach und nicht von Hunger, nicht davon - so wird es wohl gewesen sein - welche Angst er hatte.
Sibirien - ferne, reizvolle Natur, eine Weite, die man sich von hier aus nicht vorstellen kann -, und Ort der Verbannung, Straflager, Schreckensbilder. So sieht man es von hier aus. Aber Tatjana Kuschtewskaja hat in Sibirien gelebt. Acht Jahre lang arbeitete sie als Musikpädagogin in Jakutien, und als sie dann eine bekanne Drehbuchautorin war, ja mehr noch später, als sie in Deutschland lebte, dachte sie gern an die Zeit ihrer Jugend zurück. Sie ist wieder hingefahren, hat mit der Leidenschaft einer Forscherin alles erkundet, was es entlang des Flusses Lena zu sehen, zu hören, zu erfahren gibt.
Vom Baikal bis zum Eismeer - man staunt nur so beim Lesen. Von Yetis ist die Rede, von Bären und ihren Eigenarten natürlich auch, von Steinzeitmenschen, Polarlichtern und davon, dass seit 1794, als die Eremitage in Sankt-Petersburg gegründet wurde, alljährlich sibirische Katzen ins Museum gebracht werden, damit sie das "hohe Amt des Mäusefängers" ausüben. Sie setzt sich auf ein Floß, übernachtet in den Ruinen eines Straflagers, balanciert über einen morschen Balken, fällt ins eiskalte Wasser, verirrt sich in der Taiga ... Lebensgefährlich, aber spannend. Dann wieder besucht sie eine schöne alte Holzkirche, wird von einem Schamanen zu einem Ritual eingeladen, und der ließ sich sogar fotografieren.
Blutsuppe mit Wurzelgemüse und Sülze aus Seehundflossen gefällig? Oder doch lieber Kaviar? Würden Sie es wagen, den Urin eines Rentieres zu trinken, das mit Fliegenpilzen gefüttert worden ist? Sie hat es gemacht. Gegen Erfrierungen hilft die Asche verbrannter Hundehaare, gegen rheumatische Beschwerden eine heiße Kompresse aus nordsibirischem Moos, erfährt man. Wenn Schlittenhunde einen Hasen wittern, kann man schnell in einer Schneewehe landen. Vorsicht vor Wölfen, die sich tot stellen. Gold, Diamanten, Erdöl - wenigstens zu einem Teil müssten die Gewinne daraus für die Entwicklung Sibiriens aufgewandt werden und nicht bloß in die Taschen neurussischer Milliardäre fließen.
Gegenwärtige Einschätzungen, historische Exkurse, verbunden mit einer Fülle von Geschichte, die man ihr erzählte. Anekdoten, Märchen und Sagen dürfen nicht fehlen.
So viele Wunder! Aber das beste ist die Art, wie Tatjana Kuschtewskaja erzählt. Begeisterung, die ansteckt. " O ja, es ist Liebe", sagt sie, wenn sie auf die Lena zu sprechen kommt, "die Heimat meiner Seele". Sie lebt ja nun schon seit 1991 hier - auch aus Liebesgründen, wie könnte es bei ihr anders sein - und sie hat den Vergleich: "Die Menschen des Westens, im Korsett der Zivilisation, haben den Sinn für die unmittelbaren Impulse, das Fiebern und Beben des Lebens schon fast verloren. "Im hohen Norden dagegen ...
"Ich bin ein wahres Glückskind", so beginnt das Buch. Ein Schlüsselsatz, um den Zauber zu verstehen,der von ihm ausgeht. Hier ist jemand mit sich und seinem Leben eins, kommt gar nicht auf die Idee, sich einer Erfahrung zu verschließen, sondern nimmt das, was auf ihn zukommt, freundlich, offen an. Eine Lebensschule - auch das mag dieses Buch vielleicht sein.
veröffnentlicht im Neuen Deutschland am 26.Mai 2007